Locker vom Hocker: Geier, groteske Schönheit!

Liebe Küstenleser!
Beim Morgenspaziergang auf der Gästefarm Otjohotozu am Ostende des Erongogebirges blinzel ich in die grelle Sonne und sehe einen Adler fliegen. Welch ein Anblick! Der stattliche König der Lüfte zieht stolz und bedächtig auf phosphoreszierenden Schwingen seine graziösen Kreise. Mein Blick folgt ihm, die Augen mit der Hand gegen die helle Sonne abgeschirmt, bis der gigantische Raubvogel sich im Blau des Himmels verliert.
Beim Abendspaziergang halte ich wieder Ausschau nach ihm. Und dort, hoch oben am Firmament, kreisen nicht ein, sondern zwei Adler mit weiten, gezackten Schwingen im strahlenden Licht unseres Sonnenplaneten. Mit wahrer Wonne lassen sie sich lange von der Thermodynamik treiben, bis sie langsam hinabgleiten und sich auf dem dicken Ast einer Akazie am Ufer des Omarururiviers niederlassen. Ihr Landeplatz ist weit entfernt von meinem Standplatz, sodass ich sie mit meiner Kamera optisch vergrößere. Aufgeregt stelle ich fest, dass es sich um ein Geierpaar handelt. Welch ein faszinierender Anblick, und doch sind die Greifvögel noch zu weit entfernt, als dass man sie als Laie und etwas verträumter Vogelnarr identifizieren könnte. Vorsichtig versuche ich, mich an sie heranzupirschen, aber vergebens. Den wachsamen Geierblicken entgeht nichts, und sie fliegen auf und davon. White backed vulture Otjohotozu 4Sept 2015klein

 

Ein Weißrückengeier (Gyps africanus) auf der Otjohotozu Gästefarm. Das Verbreitungsgebiet dieses Greifvogels aus der Unterfamilie der Altweltgeier umfasst große Teile Afrikas südlich der Sahara. Allerdings ist der Weltbestand zum Teil bis zu 90% eingebrochen. Foto: Susann Kinghorn

 

 

 

Aufgeben ist für mich ein Konzept, das quasi nur im äußersten Notfall realistisch eingesetzt werden sollte, und hier handelte es sich ganz bestimmt nicht um ein SOS oder Mayday, höchstens um eine Aufregung anderer Art, die das Herz höher schlagen lässt. Ich muss die Aasfresser wiederfinden!
Das knallgelbe Ei am nächsten Morgen, ganz frisch aus dem Po eines Farmhuhnes und Teil von Ester Fellners liebevoll gedecktem Frühstückstisch im Wintergarten von Otjohotozu, wird zwar in aller Seelenruhe und genüsslich verzehrt, aber dann gibt es kein Halten mehr. Ich muss diese Urvögel wiederfinden. Also laufe ich direkt zu dem Platz, wo ich sie am Abend zuvor entdeckt hatte. Selbstverständlich werden sie mir nicht, wie beim Einschalten des Fernsehers, auf einem Tablett serviert. Nein, ich muss mich auf die Suche begeben, mich auf die Vellies machen (wer trägt schon Socken im Inland?!). Somit laufe ich unermüdlich unter den schattigen Bäumen am Omarururivier gleich nördlich des Farmhauses von Otjohotozu entlang, schaue fortwährend nach rechts und links und suche die Baumspitzen ab, in der Hoffnung, dass ein Wunder geschieht, obwohl ich weiss, dass die Chance, solch eine Vogelrarität ein drittes Mal zu Gesichte zu bekommen, schon fast an ein achtes Weltwunder grenzt.
Und da…ich schaue in Ehrfurcht zu ihm hinauf. Der prächtigste Weissrückengeier, einer bedrohten Spezies zugehörend, sitzt auf einem toten Ast und beobachtet seine Umgebung intensiv. So gespenstisch-makaber sieht er aus, und gleichzeitig umgibt ihn eine seltsame Schönheit, diesen Staubsauger der Umwelt, dieses Symbol eines gesunden Habitats und dem Zyklus des Lebens. Wie unantastbar und stolz sitzt er da, seine Augen auf Hunger und Tod fokussiert. Welch einzigartige, seltene Begegnung mit diesem ästhetisch herausfordernden, majestätischen Prachtexemplar aus der Familie der Habichtartigen.

Ihre Susann Kinghorn

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